Als ich gefragt wurde, ob ich zur Geburtstagsfeier von Gandhi kommen und vielleicht sogar etwas lesen würde, da musste ich nachdenken.
Gandhi. Selbstverständlich würde ich kommen und gerne würde ich auch etwas lesen. Aber was? Was gibt es über Gandhi zu sagen, was nicht längst geschrieben wäre? Ganz schnell würde ich antworten: „Es gibt nichts.“
Je länger ich aber darüber nachdachte, umso mehr machte es mir Freude, wieder über ihn und sein Leben nachzudenken.
Merkwürdig, wenn ich an Gandhi denke, fällt mir jedes Mal sein richtiger Vorname erst nach einer gewissen Zeit ein, denn für mich ist er immer Mahatma Gandhi. Mahatma ist aber eigentlich gar kein Vorname, sondern eher ein Titel. Er bedeutet „Große Seele“. Und das stellt Gandhi für mich dar: Er war und hatte eine große Seele. Dass man ihn auch “Bapu„ nannte, was auf Gujarat, dem Distrikt aus dem er stammte „Vater“ bedeutet, gefiel mir ebenso. Es passte zu ihm.
Wie ich so über diese Bezeichnungen resümierte, erinnerte ich mich daran, dass Gandhi den Titel „Mahatma“ von einem weiteren großen Sohn Indiens erhalten hatte; von Rabindranath Thakur, hier bei uns ist er besser bekannt als Tagore. Er war der erste Literaturnobelpreisträger Indiens.
Und mit Tagore habe ich die Brücke gefunden, die mich zu Gandhi führt und diese Geschichte möchte ich erzählen.
2007, das war 3 Jahre bevor ich meine Bücher „Mein Wunscherbe“ fertig geschrieben hatte und noch nicht wusste, ob ich auch einen Verlag dafür finden würde, wurde mir bewusst, dass ich nach Indien reisen musste um für das Wunscherbe zu recherchieren. Ich plante die Reise und flog im Januar 2008 nach Kalkutta. Das ist die Stadt, in der sich Vieles zugetragen hatte, was im Wunscherbe nachzulesen ist.
Dort besuchte ich meine „indische“ Schwester und wandelte in Kalkutta auf den Spuren meiner Mutter, die sich im Jahre 1956 mehr als acht Monate in Indien aufgehalten hatte und mehr als 12000 Kilometer durch das Land gereist war. Es waren ihre Aufzeichnungen, ihre Fotos, ihre Erinnerungen, die ich geerbt hatte und die ein großes Geheimnis enthielten, von denen vorher niemand etwas gewusst hatte. Es war für mich eine sehr spannende, aufwühlende Zeit.
Nun sah ich all die Plätze, die Häuser, die Märkte und sogar einige Menschen, denen sie begegnet war und von denen sie berichtet hatte. Meine Zeit reichte nicht aus, um alles zu entdecken und zu erforschen, aber einen speziellen Wunsch hatte ich, den ich aber nicht zu äußern wagte, da er eine 150 km lange Reise mit sich bringen würde. Das wollte ich aber weder meiner indischen Schwester, noch ihrem Ehemann zumuten. Sie hatten mir schon sehr viel gezeigt, hatten sehr viel für mich organisiert und ich hatte mehr gesehen, als ich es mir erträumt hatte.
Es fehlte mir persönlich aber dennoch etwas an dieser wundervollen Reise. Seit meiner frühen Jugend hatte ich von Rabindranath Tagore gehört. Meine Mutter hatte viel von ihm erzählt. Das war so fest in meinem Denken, dass es einfach zu Indien gehörte. Ich wusste, dass die Familie Tagore aus Kalkutta stammte und dass Rabindranath später auf das Land seines Vaters in die Nähe umgesiedelt war. So sprach ich zunächst den Wunsch aus, das Anwesen der Tagores in Kalkutta zu sehen.
Es war das Geburts- und Sterbehaus von Tagore, das heute u.a. eine Universität beherbergt aber auch ein Museum ist. Unter Nr. 3023 des Jahres 2008 bin ich dort im sogenannten Gästebuch registriert. Es ging sehr streng dort zu: Man musste seine Taschen ablegen, durfte nicht fotografieren, wurde nicht nur einmal registriert, sondern mehre Male und man wurde auch des öfteren kontrolliert. Ich fragte mich, warum ein solcher Sicherheitsaufwand betrieben wurde, denn es gab nicht sehr viel zu sehen, schon gar keine Kostbarkeiten… sieht man mal von seinem Sterbebett und vielen Möbeln ab, aber wer wollte sich das in die Tasche stecken?
Zweifellos, es war eine sehr interessante Unternehmung und ich bin noch heute froh, das Haus gesehen zu haben, hatte ich doch in Tagores Erinnerungen einiges über das Haus seiner Kindheit gelesen. So verwandelten sich die Erzählungen aus einem Buch von Tagore in eine Art Dokumentarfilm. Allerdings verursachten mir die vielen Wachmänner Unbehagen. Sie passten nicht in meine Vorstellung eines friedlichen Zuhauses von Tagore. Diese Beklemmung verschwand jedoch kurz darauf wieder, denn die Eindrücke bei der Weiterfahrt durch das faszinierende Kalkutta ließen keine Zeit, um weiter über das Wieso und Warum nachzudenken.
Wenige Tage später bereitete man mir eine wunderbare Überraschung. Eine Cousine der indischen Schwester hatte ein paar Tage frei. Sie und ihr Mann besaßen ein Haus in Santiniketan, dass sie unbedingt mal wieder inspizieren wollten und hatte uns eingeladen, mitzufahren. Ich konnte mein Glück kaum fassen, denn Santiniketan war das Ziel meiner heimlichen Wünsche! Dort war das eigentliche Zuhause Tagores – und ich hatte nun die Möglichkeit, es zu sehen. Meine Aufregung bis zur Abfahrt wuchs und ich stellte mir immer wieder die Bilder vor, die ich in meinen geerbten Alben betrachtet hatte. Diese deckten sich nämlich überhaupt nicht mit meinen Vorstellungen einer Schule. Aber ich sollte besser der Reihe nach erzählen.
Meine Mutter hatte während ihres Indienaufenthaltes u.a. die Schwiegertochter Tagores kennen gelernt. Sie verbrachten viel Zeit miteinander und unterhielten sich gern. Ich vermute daher, dass sie von ihr erfahren hatte, wie sehr ihr Schwiegervater als Kind unter seiner Schulzeit gelitten hatte. In der Zeit seiner Jugend stand Indien noch als Kronkolonie unter direkter britischer Kolonialherrschaft. Das englische Schulsystem war äußerst streng und Tagore hatte Mühe, dem standzuhalten. Er brach seine Ausbildung vorzeitig ab und träumte immer von einem Schulsystem, dass die Kinder mit Freude erfüllte und sie -sozusagen- freiwillig lernen ließ. Als er selber Vater wurde, wollte er seinen Kindern eine Schulzeit unter den Engländern nicht antun. Deshalb siedelte er von Kalkutta nach Santiniketan um. Dort gründete er eine eigene Schule auf dem Landsitz seines Vaters.
Tagore hatte ein Gedicht geschrieben, das aufzeigt, wie er über das Aufwachsen von Kindern dachte:
Aus Furcht, es könnte zerreißen, vom
Staube befleckt sein, hält es sich fern von
der Welt und fürchtet beinah sich zu regen.
Mutter, es ist kein Gewinn im Zwang
deines Putzes, wenn er uns ausschließt
vom heilsamen Staube der Erde, wenn
er des Rechts uns beraubt, hinzuzutreten
zum großen Markt des gemeinen menschlichen
Lebens.
In seiner Schule gab es keine Klassenzimmer, der Unterricht fand draußen, in der Natur statt. Er legte großen Wert auf die Ausbildung der schönen Künste, also Musik, Tanz, Malerei usw. Zwangsläufig schrieb Tagore seine eigenen Schulbücher, da die englischen nicht seiner Auffassung entsprachen.
Was sehr klein begann, denn zunächst waren nur die eigenen Kinder seine ersten Schüler, später kamen die Kinder seiner Freunde hinzu usw., erlebte Tagores Schule mit der Zeit immer größere Erfolge. Sie wuchs und wuchs und fand immer mehr Anerkennung. Heute hat sie einen bedeutsamen Namen „Visva Bharati Universität“ und ist in die Universität von Kalkutta integriert. Noch heute sind die einstigen Schulbücher Tagores Unterrichtsmaterial.
Das Leben Tagores ist viel zu interessant und zu vielseitig, als das ich es hier in kurzer Zeit erzählen könnte, denn er gründete nicht nur Schulen, schrieb Schulbücher, Gedichte, Novellen, Essays, komponierte, musizierte, nein, er betätigte sich auch als Architekt und Baumeister.
Davon konnte ich mich selber überzeugen, denn im Grunde ist der gesamte Ort Santiniketan ein riesiges Gesamtmuseum. Das Lebenswerk Tagores.
Nun befanden wir uns auf dem Weg dorthin. Die Cousine, sie war Direktorin einer Schule in Kalkutta, erwies sich als sehr nette und rücksichtsvolle Begleiterin. „Santi“, erklärte sie mir, bedeutet „Friede“ und „niketan“ so etwas wie Hafen oder Ort, also wäre dieser Platz ein „Hafen“ bzw. „Ort des Friedens“. Sie zwinkerte mir zu und meinte, dass ich es bald selber erleben würde.
Wie, hatte ich mich gefragt, könnte man Frieden fühlen, wenn viele Menschen emsig um einen herum wirbelten, ihren Tätigkeiten nachgingen, einkauften, lachten, sangen, froren? Ich beobachtete meine Umgebung, in der es lebhaft zuging. Während ich ein kurzes Shirt und Sandalen trug, erblickte ich einige Männer, die sich dicke Schals um die Köpfe geschlungen hatten. Sie konnten nicht alle Halsschmerzen haben, überlegte ich. Aber froren sie wirklich? Mir war es nicht kalt. Hier aber war es Winter und das Thermometer zeigte über 20 Grad. Das könnte man natürlich als kalt empfinden, wenn man sonst 30 bis über 40 Grad und mehr als Normaltemperatur gewöhnt war.
Der Chauffeur hielt an einer kleinen Nebenstraße an, wir stiegen aus, stellten uns auf den sandigen Weg und während meine Begleiter darüber diskutierten, was man einkaufen wollte, geschah mit mir etwas Ungewöhnliches. Noch im Auto war ich aufgeregt und ungeduldig, konnte kaum erwarten, endlich auszusteigen und diesen magischen Ort zu erkunden. Nun stand ich da auf diesem merkwürdigen roten Sand und ich spürte, wie mich eine nie erlebte Ausgeglichenheit und Gemütsruhe erfasste, die ich, fast möchte ich es ehrfürchtig nennen, erlebte. Ich fühlte tatsächlich diesen Ort des Friedens, dieses Santiniketan! Es war unglaublich. Auch wenn ich heute daran denke, überkommt mich noch immer dieses unfassbare Geschehnis.
Am nächsten Tag begleitete mich die Cousine, um das wirkliche Tagore-Museum anzusehen, aber auch die vielen anderen Häuser die Tagore für sich, seine Familie und die Universität, bzw. die Schule gebaut hatte.
Für mich war es sehr anstrengend, die vielen Texte der Erklärungen, die in Rahmen an den Wänden hingen und zumeist in Bengali geschrieben waren, zu erfassen und zu deuten. Die Cousine übersetzte vieles davon; wir verständigten uns in Englisch.
Plötzlich las sie, dass an diesem Tisch und in diesen Sesseln,vor denen wir gerade standen, Tagore und Gandhi gesessen hatten. Ich sah mich um, niemand war anwesend, also setzten wir uns auf die Sessel. Es schien nicht verboten sein. Gandhi hatte Santiniketan und somit Tagore mindestens dreimal in seinem Leben besucht.
Wir stellten uns vor, wie diese beiden großen Geister hier gesessen sind und wahrscheinlich stundenlang diskutiert haben, denn beide Männer schätzten sich sehr, waren aber nicht immer einer Meinung. Tagore war es, der Gandhi den Namen „Mahatma“ gegeben hatte.
Was war das für ein Gefühl, hier zu sitzen, wissend, wie sich die Geschichte, sowohl Indiens als auch Santiniketans entwickelt hatte, während diese beiden großen Männer hier saßen und sich die Köpfe darüber zerbrochen haben, wie sie zu einem guten Resultat für alle Menschen kommen könnten. Wir waren tief beeindruckt.
Und plötzlich schreiben wir das Jahr 2016. Ich bin in Stuttgart in der Mahatma-Gandhi-Straße und feiere den 147. Geburtstag dieses kleinen, großen Mannes: Mahatma, Mohandas Karamchand Gandhi, auch genannt: Gandhiji.
Und: Ich bin immer noch beeindruckt.
von Dietlinde Hachmann